Sonntag, 12. Juni 2011

Filmreif






Da stehen wir Hiergebliebenen,
filmreif,
auf den leeren Kreuzungen
dieser toten Stadt.
Wie damals,
als wir in den Rückspiegeln der Freunde klein wurden.

Da stehen wir,
filmreif,
im Gegenwind,
und lächeln verloren
zu den flackernden Ampellichtern,
die sich im Wasser der Schlaglochseen spiegeln,
zu den Lichtern,
die selbst in der Nacht nicht mehr hell genug sind.

Da stehen wir,
filmreif,
in festverschnürt löchrigen Kinderschuhen,
die Hände kalt und wund vom Alltag,
wie früher von „über’n Zaun“.
Blut an den Händen
und Dreck in den Wunden.

Da stehen wir Zurückgebliebenen,
filmreif,
in dieser Stadt,
die sich nie wirklich verändert hat.
In der im Sommer der Teer,
wie damals,
von den schwarzen Garagendächern in unsere Nasen kriecht.
In der im Winter noch immer der Rauch der alten Stahlwerkstürme
aus den Schornsteinen der Kohleöfen zu quellen scheint,
um die Stadt zu ersticken.

Sie sieht krank aus,
rastlos, ratlos,
die Farben blass und matt,
so weit entfernt von „Früher“ und von Super8.
Selbst das nacht-orange-Blinken der wippenden Ampeln
über den leeren Kreuzungen
kann die Stille nicht erträglich machen.

Da stehen wir also,
filmreif,
unter den ewig summenden Stromleitungen,
die aus der Stadt führen,
aber können ihnen nicht folgen
in unseren längst zu kleinen Schuhen.
Wir leben in den Altlasten unserer Kindheit,
in den Kulissen einer Vergangenheit die nie gedreht wurde.
und über uns kreisen die Möwen wie Geier
und unter uns bricht das Eis,
und die Gegenwart bleibt weiter verwaist,
weil sie den bleiernen Erinnerungen nicht standhalten kann.

Und wir stehen noch immer,
filmreif,
wie damals, als ihr gegangen seid
und wir in euren Rückspiegeln klein wurden.
Denn wir haben den Absprung lange verpasst,
aus der Stadt
in der sonst niemand vergisst in den Zug zu steigen.

Also stehen wir Hiergebliebenen,
im Abspann kaum lesbar,
denn am Ende sind wir nur die Statisten
im Leben der wahren Protagonisten.



(2011)

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